Translated into German by Armin Volkmar Wernsing copyright © by
Denis Emorine and Armin Volkmar Wernsing
Bahnsteig
von Denis Emorine
Für Génia Jensen
Personen
Laure Dujardin, neunzehn Jahre, blassblaues Kleid
Marek Smierc, fünfundvierig Jahre, grauer Anzug
Erster Reisender
Zweiter Reisender
Dritter Reisender
Der Angestellte
Vorstadtbahnhof, ungefährt dreißig Kilometer von Paris. Brodelnde
Geschäftigkeit. Aus unbekannten Gründen sind die Züge verspätet. Einige
Reisende machen empörte Gesten, gehen auf dem Bahnsteig hin und her,
schreien.
Am anderen Ende des Bahnsteigs sind Laure und Marek, deutlich getrennt
von den anderen; sie sind schweigsam. Die heftige Bewegung der Reisenden
scheint ihnen völlig fremd.
ERSTER REISENDER: Schnauze voll!
ZWEITER REISENDER: Immer sind sie verspätet!
DRITTER REISENDER: Alles erschießen!
Pause. Die drei Reisenden ziehen ihre Uhren zu Rate und seufzen.
ERSTER REISENDER: Das kann nicht wahr sein!
ZWEITER REISENDER: Vierzig Minuten Verspätung!
DRITTER REISENDER: Alles erschießen!
Laure, ein wenig entfernt, bleibt teilnahmslos. Sie geht ein paar
Schritte auf und ab. Sie sieht in die Ferne, gefesselt von irgendetwas
oder in einer imaginären Welt befindlich. Sie sieht freudestrahlend aus.
Marek ist hinter ihr. Er betrachtet sie aufmerksam und mit einer
gewissen Zärtlichkeit, ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen. Er
scheint bewegt. Auch er kümmert sich nicht um die Aufregung der anderen
Reisenden. Pause. Erneut Laute des Unwillens.
ERSTER REISENDER: Einfach unmöglich!
ZWEITER REISENDER: Fast eine Stunde Verspätung!
Der dritte Reisende bleibt stumm. Die beiden anderen sind überrascht
und werfen ihm einen erstaunten Blick zu. Alle drei sehen sich an und
brüllen:
DIE REISENDEN: Alles erschießen!!!
Laure trällert vor sich hin, anscheinend ein Wiegenlied. Ein wenig
verlegen, macht Marek ein paar Schritte auf sie zu. Er spricht sie sanft
an, aber sie hört ihn nicht.
Er hebt die Hand, als wolle er jetzt sprechen, überlegt es sich...
Endlich geht er auf sie zu, ist in ihrer Nähe...
MAREK: Mademoiselle?
LAURE (dreht sich langsam um und sieht ihn erstaunt an. Mit weit
entfernter Stimme): Ja?
MAREK: Sie warten auch auf den Zug nach Paris?
LAURE (zerstreut): Nein. Nicht wirklich...
MAREK (erstaunt): Wohin denn dann?
LAURE (lächelt ihn an): Nirgendwohin, ganz einfach. (Sie lacht.) Es ist
doch einfach hierzubleiben! Finden Sie nicht?
MAREK (lächelt zurück): Sicher. (Pause) Worauf warten Sie dann
eigentlich?
LAURE (überrascht): Auf Julien. (Pause) Auf Julien natürlich.
MAREK: Julien? Wer ist Julien?
LAURE (strahlend): Julien? Mein Verlobter natürlich!
MAREK (verlegen): Sie sind verlobt?
LAURE: Ja. Was ist daran so merkwürdig?
MAREK (Schatten im Auge): Nichts. Garnichts. (Pause) Aber Sie sind so
jung! (Zögernd) Wie alt sind Sie, Mademoiselle?
LAURE (fröhlich): Sie können mich Laure nennen. „Mademoiselle“, das ist
viel zu feierlich für mich. Ich habe immer Lust zu lachen, wenn man mich
„Mademoiselle“ nennt. Verstehen Sie das?
MAREK: Wie alt sind Sie, Laure?
LAURE (kokett): Was meinen Sie?
MAREK (verlegen): Ich weiß nicht. Es fällt mir immer schwer, das Alter
von Leuten zu erraten.
(Pause. Er sieht sie aufmerksam an.) Nun... weniger als zwanzig?
Laure antwortet nicht. Sie kichert, als sie ihn ansieht.
MAREK: Also? Wie alt sind Sie?
LAURE: Sie haben recht. Ich bin achtzehn. (Pause) Glaube ich.
MAREK (erstaunt): Wieso: glaube ich? Was wollen Sie damit sagen?
LAURE (weise): Die Jahre mit vielen Ereignissen vergehen so schnell.
Andere zählen doppelt auf der Zeitschiene. Achtzehn Jahre, neunzehn
Jahre... Ein Jahr mehr oder weniger... Was soll’s?
MAREK (mit ein wenig Trauer in der Stimme): Das sagen Sie, weil
Sie so jung sind. (Pause) Später ist es etwas anderes.
Er unterbricht sich, als hätte er eine Dummheit gesagt.
LAURE: Glauben Sie? (Sie zeigt mit dem Finger auf ihn.) Und Sie,
Herr Neugier, wie alt sind Sie?
MAREK (mechanisch): Fünfundvierzig. (Pause) Glaube ich...
LAURE (klatscht in die Hände): Sehen Sie? Sie auch!
Marek antwortet nicht. Er scheint sorgenvoll und weit weg.
Plötzlich hört man den Lautsprecher: „Alle Züge werden wegen technischer
Probleme, die wir nicht verantworten, eine Stunde Verspätung haben. Wir
bitten die Damen und Herren Fahrgäste unsere Entschuldigung anzunehmen.
Alle Züge werden...“
Lebhafte Proteste der Reisenden.
ERSTER REISENDER: Unmöglich! Die machen sich über uns lustig!
ZWEITER REISENDER (hungrig): Wir könnten inzwischen ins
Restaurant gehen, wie? Was meinen Sie? Das würde uns aufmuntern! Ist das
eine Idee?
DRITTER REISENDER (wütend): Nein, bloß nicht! Und wenn der Zug
gerade in der Zeit kommt, was dann? Nein, ich bleib hier. Machen Sie,
was Sie wollen, ich rühre mich nicht vom Fleck!
Laure und Marek, Seite an Seite, sehen vor sich hin. Einige Minuten
vergehen. Dann ergreift Marek das Wort, nicht ohne Schwierigkeiten,
scheint es.
MAREK: Mögen Sie Gedichte, Laure?
LAURE (begeistert): Ja sehr! Besonders Apollinaire...
MAREK: Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt. (Er lächelt.) Kennen Sie
ein Gedicht, das „Reise“ heißt? Es steht in den „Alcools“, glaube ich. (Er
überlegt.) Nein, eher in den „Calligrammes“.
LAURE: Nein, das sagt mir nichts. Kennen Sie es auswendig?
MAREK: Nein, aber ich erinnere mich an zwei Verse. (Pause) Mal sehen,
mir fällt’s wieder ein. (Er räuspert sich, um die Stimme zu klären und
zitiert dann langsam und klar die Verse.)
„Wohin fährt denn der Zug, der in der Ferne stirbt,
In den Tälern und den kühlen Wäldern des zart-bleichen Sommers?“
Pause. Marek wiederholt für sich selbst die Verse mit leiser Stimme. Er
scheint in einen endlosen Traum versunken.
LAURE (nach einiger Zeit): Das ist ein Gelegenheitsgedicht! Ich mag
besonders den „zart-bleichen Sommer“. Aber, das ist doch merkwürdig,
warum: „der in der Ferne stirbt“ und warum nicht: „der in der Ferne
verschwindet“ oder „der in der Ferne verblasst“? Ich mag nicht besonders
den Gedanken an das endgültige Verschwinden.
MAREK (lakonisch): Eine Metapher. Das Verschwinden und der Tod, das ist
dasselbe...
LAURE (fröhlich): Finstere Worte! Wenn der Tod überhaupt verschwinden
ist. Verschwinden...
MAREK (unterbricht): heißt nicht immer tot sein. Stimmt!
Sie sehen sich an und platzen heraus.
Marek hat Lust, ihre Hände zu fassen, überlegt es sich jedoch. Langes
Schweigen. Beide sind in Gedanken verloren. Man hört die gedämpften
Stimmen der Reisenden. Es wird dunkler.
Marek beginnt erneut.
MAREK: Übrigens, wer ist Julien?
LAURE (lächelnd): Ich habe es Ihnen schon gesagt. Der Mann, den ich
liebe.
MAREK: Das haben Sie nicht gesagt. Sie haben gesagt: „mein Verlobter“.
LAURE: Na und?
MAREK: Das ist nicht dasselbe!
LAURE (überrascht): Aber sicher doch!
MAREK (sarkastisch): Wenn Sie das sagen... (Korrigiert sich.) Verzeihen
Sie... (Pause) Merkwürdige Idee, sich in einem Bahnhof zu treffen.
(Laure antwortet nicht.) Finden Sie nicht?
LAURE: Überhaupt nicht.
MAREK: Sagen wir, es ist sehr romantisch!
LAURE (stark): Für uns ja. Der Bahnhof ist der Treffpunkt der Welt. All
diese Leute, Seite an Seite, ohne sich zu sehen, ohne voneinander zu
wissen, die unter anderen Umständen miteinander bekannt sein könnten...
Diese ganze Aufregung scheint nutzlos und widersprüchlich, selbst wenn
jeder einzelne gute Gründe für die Reise hat. Und dann: Ich liebe diesen
Ausdruck, „Saal der verlorenen Schritte“. (Sie wiederholt.) „Saal der
verlorenen Schritte“ – Julien und ich treffen uns immer in einem Bahnhof.
Es ist jedesmal ein wenig das Gleiche: Herzklopfen, Hoffnung... Man
glaubt, man habe ihn erspäht in der Flut der Reisenden, den auf den man
gewartet hat, man stürzt nach vorne... und dann, nein, es ist ein
Fremder, der ihm ähnelt! Aber das Gefühl stimmt. Man sagt sich: das
nächste Mal wird er es sein! Und dann kommt er endlich! Er ist es,
Julien! (Pause) Jedesmal ist es das Gleiche und doch etwas anderes.
Hier... (Sie sieht sich um.) kann alles passieren, besonders – Liebe.
MAREK: Bestimmt?
Laure beugt den Kopf zum Zeichen der Bejahung. Marek scheint bewegt. Er
möchte etwas sagen, wagt es aber nicht.
LAURE: Und Sie? Sie fahren nach Paris?
MAREK (rätselhaft): Möglich... Ich weiß nicht wirklich. Weiß man je,
wohin man geht? Und warum? Wissen Sie, ich wechsle den Ort ohne Grund,
zufällig manchmal... Was bedeutet schon ein Ziel? Es ist so kompliziert.
Ich mag den Zufall. (Ernsthaft) Ich verabscheue Situationen, bei denen
schon alles durchgerechnet ist, in denen man trotzdem Spielball der
Umstände ist, wo...
Marek unterbricht sich plötzlich. Pause.
LAURE. Sie sind ein merkwürdiger Mensch.
MAREK: Nein, ich glaube nicht. Ich bin da, das ist alles... Ich versuche
es jedenfalls.
LAURE (unterbricht): Das ist schon viel! (Marek schweigt.) Was machen
Sie beruflich?
MAREK (versteht nicht): Was?
LAURE: Was ist Ihre Arbeit? Was tun Sie?
MAREK (ärgerlich): Nun... ich sortiere.
LAURE (überrascht): Sie spazieren? Ich habe Sie nicht verstanden. Was
wollen Sie damit sagen?
MAREK: Überhaupt nicht! Nein, ich sortiere. (Bitteres Lachen) Mit einem
S am Anfang, wie „Schmerz“.
LAURE (sanft): Oder wie „sanft“! Ja, ich habe verstanden. Sie sortieren...
(fragend) Aber was ist das für eine Arbeit? Sortieren Sie Papiere? Sind
Sie bei der Post?
MAREK (verlegen): Nein, gar nicht. Das ist schwer zu erklären. Es ist
kein häufiger Beruf. Ich weiß nie, was ich sagen soll, wenn man nach
meinem Beruf fragt. Ich sortiere... hauptsächlich Gedanken. (Pause) Gedanken, ja, das ist es. Das ist alles. Ich habe Ihnen ja gesagt, es
ist kein häufiger Beruf.
LAURE (besteht nicht auf weiteren Erklärungen): Das kann man wohl sagen,
Herr... Herr...
MAREK: Smierc. Marek Smierc. Ich komme aus Polen. Nennen Sie mich
einfach Marek.
LAURE: Einverstanden mit Marek!
In diesem Augenblick klingelt Laures Handy. Sie macht ein Zeichen der
Entschuldigung und geht ein paar Schritte weg.
LAURE (glücklich): Julien! Ich war sicher! (Sie lächelt.) Ah ja, der Zug
aus Paris! Ich weiß... Ich warte auf dich... Ja, Probleme auf der
Strecke... (lächelnd) Wir haben das ganze Leben vor uns. (Marek sieht
sie bewegt an.) Aber nicht doch! Nicht zum aufeinander warten! (Sie geht
ein paar Schritte und lächelt zu Marek hinüber.) Nein, alles in Ordnung,
ich warte doch. Ja... Bis später... Ja. Ja. Bis gleich! (zu Marek) Das
war Julien!
MAREK (lacht): Ich hätte gewettet!
LAURE: Warten ist schön!
MAREK: Wieso?
LAURE: Aber ja! Ich warte gerne, besonders auf ein geliebtes Wesen. Die
Gedanken schweifen, man ist irgendwo anders, und dann, ohne zu wissen
warum, denkt man auf einmal an den Freund, den man ungeduldig erwartet.
Ich mag dieses Hin und Her der Gedanken! Es ist gleichzeitig genau und
verschwommen. Es ist sehr schwer, Gedankenbewegungen zu beschreiben!
(Pause) Das genau gefällt mir, die Unmöglichkeit, Gefühle rational zu
beschreiben. Das beruhigt!
MAREK: Ein schöner Ausdruck, (Pause) das Hin und Her der Gedanken! (Er
wiederholt melancholisch.) Das Hin und Her der Gedanken...
Pause. Die Reisenden haben sich etwas beruhigt, zumindest scheint es so.
Man hört sogar Gelächter. Der Lautsprecher kündigt erneut „eine
unbestimmte Verspätung wegen unbekannter Ursache“ an. Explosion von
Schreien: „Alles erschießen!“.
Laure und Marek sehen sich lächelnd an.
LAURE: Diese Aufregung scheint Sie nicht zu berühren. Sie haben es nicht
eilig?
MAREK: Ehrlich gesagt: nein. Niemand wartet auf mich, und ich warte auf
niemanden. Jedenfalls nicht wirklich. (Pause) Sie kennen ihn seit langem?
LAURE: Wen? Julien? (Marek nickt.) Seit immer.
MAREK: Und Sie lieben ihn seit langem?
LAURE (genauso): Seit immer.
MAREK (gerührt): Und ... sind Sie glücklich?
LAURE (genauso): Seit immer.
Die drei Reisenden nähern sich entschlossen, ein Papier in der Hand.
DRITTER REISENDER: Man macht sich über uns lustig! Wir werden ein
Petition herumgehen lassen!
ZWEITER REISENDER (aggressiv): Jeder muss unterzeichnen! Das ist Pflicht!
Keine Ausrede!
ERSTER REISENDER (agressiv, zeigt auf Laure und Marek): Sie auch!
Laure und Marek sehen sich an. Sie schütteln leicht den Kopf.
ZWEITER REISENDER (verblüfft): Wie? Unglaublich! Sie wollen nicht
unterzeichnen? (Er dreht sich zu den anderen.) He Leute, die wollen
nicht unterschreiben!
ERSTER REISENDER: Sie müssen! Das ist Pflicht! Keine Ausrede!
DRITTER REISENDER (drohend): Sie müssen unbedingt unterschreiben! Sie
müssen solidarisch sein, oder Sie machen sich über uns lustig! (Pause) Finden Sie nicht?
Laure und Marek antworten nicht. Sie scheinen abwesend. Sie sagen weder
ja ja noch nein.
DRITTER REISENDER (mit aggressivem Ton): Also? Wird’s bald? (Reicht
ihnen einen Stift.) Unterschreiben Sie nun oder nicht?
ZWEITER REISENDER (konziliant): Unterschreiben Sie, machen Sie schon!
Nur Mut! Was kostet das schon, eine kleine Unterschrift? Denken Sie doch
mal an die anderen!
ERSTER REISENDER: Sie müssen solidarisch sein! SOLIDARISCH!
DRITTER REISENDER: Wird das noch was oder wie? Na, wenn es Ihnen egal
ist, wie lange Sie warten müssen, dass Sie Ihre Zeit so dämlich
verlieren, wegen ein paar Trottel? Entschließen Sie sich endlich!
LAURE (sanft): Man verliert nie seine Zeit.
MAREK (sarkastisch): Die Zeit verliert eher uns.
ZWEITER REISENDER: Ohe! Das ist ein Klugscheißer, der da!
ERSTER REISENDER: Gib’s auf!
DRITTER REISENDER: Kommt nicht in Frage! Das wäre zu einfach!
ERSTER REISENDER: Geben wir’s auf. Zwei mehr oder weniger! (Spöttisch)
Liebende sind ganz allein auf der Welt, das kennt man!
Die drei Reisenden kirchern und sehen Laure unverschämt an. Im selben
Augenblick, als wollte er Laure und Marek aus einer unangenehmen
Situation retten, kündigt der Lautsprecher die Ankunft eines Zuges an: „Dieser
Zug hält an allen Bahnhöfen bis Paris“. Explosion von Freude, Schreie
der Reisenden, die ein wildes Tänzchen improvisieren. Man hört mehrmals:
„Paris gehört uns!“. Laure und Marek scheinen dem ganzen Tumult
gegenüber gleichgültig. Der Zug färt ein. Einige Reisende steigen aus,
andere drängen hinein und rempeln andere an. Man hört weitere Schreie.
Ein Bahnangestellter kommt. Laure sieht sich erstaunt um.
LAURE (zum Angestellten): Woher kommt dieser Zug?
BAHNANGESTELLTER: Aus Paris. In sieben Minuten fährt er wieder zurück.
LAURE (strahlt): Er kommt aus Paris? Julien...
Sie sieht in einige Abteile hinein. Niemand steigt mehr aus.
LAURE (hilflos, murmelt): Julien... Julien... Wo bist du?
Der Bahnangestellte kommt zurück. Laure wendet sich an ihn.
LAURE: Monsieur...
BAHNANGESTELLTER (zerstreut): Ja?
LAURE: Dieser Zug... Der kommt aus Paris? Sicher?
BAHNANGESTELLTER: Hab ich Ihnen doch soeben gesagt!
LAURE: Jaja. Entschuldigen Sie... Ich warte auf jemanden und...
BAHNANGESTELLTER: Entschuldigen Sie, Mademoiselle. Ich habe keine Zeit.
Ich muss meine Arbeit machen.
LAURE: Warten Sie, eine Minute bitte! Und der nächste? Um wieviel Uhr
kommt der nächste?
Bahnangestellter: In einer halben Stunde, Mademoiselle. (Zögert.) Das
heißt... im Prinzip. Wenn alles wieder funktioniert. Es gab da ein
Problem auf der Strecke, anscheinend. Ich weiß es nicht genau.
Entschuldigen Sie.
Der Bahnangestellte entfernt sich schnell. Pause. Der Zug fährt ab.
Laure und Marek bleiben allein auf dem Bahnsteig. Sie lächelt schwach.
LAURE: Ja, also!
MAREK: Nun also! (Zeigt auf den abfahrenden Zug.) Den sind wir los.
LAURE (lacht): Sie übertreiben! (Blickt auf ihre Uhr.) Gut. Noch eine
halbe Stunde, und Julien ist da, was für ein Glück!
MAREK (verkrampft): Glauben Sie? Ich würde gerne... (unterbricht sich)
ich würde Ihnen gerne sagen...
LAURE (mit Gewissheit): Das ist sicher. Er wird kommen. Er hat den Zug
verpasst, das ist alles. Das ist nicht schlimm. Wir werden inzwischen
miteinander plaudern. (Nimmt seinen Arm.) Ich plaudere gerne mit Ihnen,
wissen Sie das?
Marek antwortet nicht. Er ist verlegen. Er öffnet den Mund, als wollte
er etwas sagen, aber nichts kommt heraus. Pause. Er bekommt den Mund
nicht auf.
LAURE (erstaunt): Geht’s git? (Marek schweigt.) Geht es gut?
MAREK: Wenn man so will...
LAURE: Was ist mit Ihnen? Sagen Sie doch... Haben Sie Sorgen? Hätten Sie
diesen Zug nehmen sollen?
MAREK: Nein.
LAURE (beinahe sprachlos): Ach so? Dann... erwarten Sie auch jemanden
wie ich?
MAREK (nervös): Nein. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich
niemanden erwarte. Ich erwarte nie jemanden.
LAURE: Sicher? (Marek runzelt die Brauen.) Dann geht doch alles gut. (Zögernd)
Dann... wozu warten Sie dann hier? Auf nichts?
Marek antwortet nicht. Er betrachtet starr den Boden.
LAURE (besteht auf einer Antwort): Warum warten Sie hier? (zögernd) Mit
mir?
MAREK: Eben.
LAURE: Was eben?
MAREK (spricht sehr sanft, nimmt ihren Arm): Ich muss Ihnen sagen... Ich
hätte Ihnen sagen sollen...
LAURE: Was?
MAREK: Ich hätte Sie warnen sollen... Ich muss Sie warnen. Noch ist Zeit.
Ich bin der Bote, verstehen Sie? Der Bote.
LAURE (zögernd): Was für ein Bote? Ich brauche keinen Boten. Ich
verstehe nicht.
MAREK (brüsk): Ich habe gesagt: „DER Bote“. Ich bin nicht irgendein
Bote.
LAURE: Ich verstehe Sie wirklich nicht. Jetzt machen Sie mir Angst.
Sehen Sie mich doch nicht so an! (Schließt die Augen.) Lassen Sie mich
allein jetzt, lassen Sie mich allein!
MAREK: Sie sind allein. Man ist immer allein. Deshalb gibt es den Boten.
(Pause) Manchmal...
LAURE: Ich habe Sie satt, Sie und ihre rätselhaften Sprüche! (Schreit)
Julien! Julien!
MAREK (sehr sanft): Julien wird nicht kommen, Laure. (Sie antwortet
nicht. Er nimmt ihren Arm.) Hören Sie, bitte! Julien wird nicht kommen!
LAURE (laut): Was sagen Sie da? Wie? Das ist verrückt! Er wird da
sein... (Sie sieht auf die Uhr.) ... in einer Viertelstunde. Ich liebe
ihn! Er liebt mich! Er muss kommen! Nie hat er ein Treffen verpasst!
Nie! Sie lügen!
MAREK (sanft, mit Überredung): Ich bitte Sie, Laure, hören Sie auf mich.
(Schreit) Laure! Julien kommt nicht mehr! Verstehen Sie mich?
LAURE: Schweigen Sie! Sie lügen! Sie lügen! Ich will nichts mehr hören!
Sie existieren nicht! Lassen Sie mich in Ruhe!
MAREK (hilflos): Ich will Ihnen doch... ich wollte Sie vorbereiten. (Keine
Antwort) Von Anfang an.. (Mit Leidenschaft) Sehen Sie mich an, ich bin
der Bote, verstehen Sie?
LAURE (sieht in hasserfüllt an): Gehen Sie! Lassen Sie mich in Ruhe! Ich
kenne Sie nicht, Monsieur. Sie wollen mir weh tun. Sie sind verrückt...
MAREK (schwach): Oh nein. Das wäre zu einfach. Und so grausam! Nein, die
Wirklichkeit ist schlichter. Laure, hören Sie mich an, Julien...
LAURE (unterbricht): Schweigen Sie! Lassen Sie mich oder ich rufe um
Hilfe!
MAREK: Zwecklos. Niemand wird kommen. (Er nimmt ihren Arm, sie befreit
sich heftig.) Ich wollte Sie vorbereiten. Von Anfang an. Ich bin...
LAURE (verächtlich): ... der Bote, ich weiß.
MAREK (verzweifelt): Wie soll ich mich verständlich machen, Laure,
kleine Laure? Wie Sie... Julien... (Pause) Julien ist...
In diesem Augenblick hört man eine Stimme aus dem Lautsprecher:
„Mademoiselle Laure Dujardin wird an Schalter 2 erwartet. Mademoiselle
Laure Dujardin wird erwartet...“
LAURE (strahlend): Da sehen Sie! Es ist Julien, mein Julien! Ich bin
Ihnen nicht böse. Auf Wiedersehen!
Laure läuft davon. Marek scheint es nicht zu bemerken.
MAREK (stumpf, hat nicht bemerkt, dass Laure weggelaufen ist): Laure,
Laure, hören Sie zu. Julien ist tot, tot. Er ist unter den Zug gekommen,
unter den Zug, der aus Paris kam. Er liebte Sie so, Laure, schon immer...
Er hatte es so eilig, Sie in die Arme zu nehmen. (Pause) Julien kam ein
paar Minuten zu spät zum Bahnhof... Er wollte auf das Trittbrett
springen, als der Zug schon fuhr, und da... (Marek schließt die Augen.)
Er liebte Sie, Laure, wie er Sie liebte! Er ist ganz schnell gestorben.
Schrecklich. Sein letzter Gedanke waren Sie, hören Sie? Sie allein!
(Pause) Ich heiße Marek, Marek Smierc... Vielleicht wissen Sie das nicht,
„Smierc“, das heißt auf Polnisch „Tod“. Der Tod... (Marek zittert, er
scheint in Trance. Plötzlich fängt er an, polnisch zu sprechen, als
delirierte er.) Mam na imie Marek Smierc... Po polsku znaczy to „smierc“.
Przede wszystkim, prosze o tym nie zapominac.
Pause. Im Hintergrund sieht man Laure, die zusammengebrochen ist, von
zwei Männern gestützt, die sie fortführen und zu trösten versuchen.
Marek bemerkt es nicht. Er fährt in demselben Ton fort.
MAREK (entrückt): Laure, sind Sie noch da? Kommen Sie nahe zu mir,
bitte. Hören Sie? Nein, sagen Sie nichts... Seien Sie mir nicht böse,
bitte. Ich bin der Bote, Laure, der Bote, vergessen Sie das nicht. Ich
bin nicht dafür verantwortlich, für nichts... (Brüllend) Laure! Laure!
Hören Sie! Antworten Sie! Ich heiße Marek, Marek Smierc. Der Tod, der
Tod auf Polnisch. (Pause) Mam na imie Smierc... Po polsku znaczy to „smierc“.
Przede Wszystkim, prosze o tym nie zapominac.
Marek stößt unverständliche Worte aus. Von Zeit zu Zeit hört man Wörter
wie „tot“, „Bote“, aber immer schwächer.
Der Abend bricht herein, der Bahnhof leert sich. Marek sitzt auf dem
Bahnsteig, gestikuliert. Seine Stimme ist unhörbar.
In der Ferne hört man einen Zug, als führe er in den Bahnhof ein. Marek
krümmt sich zusammen und hält sich die Ohren zu.
Er schreit, während das Licht verlischt.
Vorhang
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